Vita - Biografie

Fremde Wünsche erfüllen…

 

Den Anfang meines Wegs zur Musik hat ein unerfüllter Wunsch meiner Großmutter und meiner Mutter gebahnt:

Die Großmutter träumte in ihrer Jugend von der Karriere einer Operettensängerin, musste aber auf Beschluss ihrer eigenen Großmutter Buchhalterin werden; meine Mutter hätte gerne bereits als Kind Klavier gelernt, doch dies wurde ihr durch die Ereignisse des 2. Weltkriegs verwehrt. Und so entschieden sich die beiden, mich mit sechs Jahren an eine Kindermusikschule zu schicken – der einzige Weg in der damaligen Sowjetunion, einem Kind eine fundierte musikalische Grundausbildung zu ermöglichen.

 

Ich selbst hatte zuvor weder gesungen noch je ein Musikinstrument angefasst, so dass das Bestehen der Aufnahmeprüfung zu einer echten Herausforderung wurde. Die Aufgabe war, ein x-beliebiges Lied vorzusingen; meine ungeübte Stimme gehorchte mir nur bedingt; ich hörte, dass ich nicht richtig intoniere, wusste aber nicht, was ich tun soll, um die Töne sauber zu treffen. Das Verdikt des Prüfungsausschusses lautete: „Kein musikalisches Gehör“; dass ich trotzdem aufgenommen wurde, und zwar in die begehrte Klavierabteilung, grenzte somit fast an ein Wunder.

Zwischen Stern- und Notenkunde

 

Ich übte fleißig, doch nicht etwa wegen einer besonderen Liebe zur Musik, die in mir aufgeflammt wäre, sondern schlicht und ergreifend aus angeborenem Fleiß und Gehorsamkeit heraus. In der Schule interessierte ich mich für Biologie und später für Astronomie und spielte ab der 7. Klasse ernsthaft mit dem Gedanken, nach dem Schulabschluss das Letztere zu studieren. Die Entscheidung, doch an eine Musikfachschule und später an eine Musikhochschule zu gehen, wurde aus pragmatischer Überlegung heraus getroffen: Wenn ich mich schon gerade in einer guten Form als angehende Musikerin befinde, zuerst mit dem Musikerberuf ausprobieren und, falls er sich nicht als der Richtige erweist, Wissenschaftlerin werden.

 

So landete ich in der Kirover Musikfachschule in der Klavierklasse von Vladimir Schaposchnikov. Das Bestehen der Aufnahmeprüfungen war in diesem Fall kein Problem, und die folgenträchtige Dozentenwahl resultierte aus einer besonderen Vorliebe meiner Mutter zur berühmten Stadt Sankt Petersburg (damals Leningrad): Da V. Schaposchnikov ein Absolvent der St. Petersburger Musikhochschule war, hoffte meine Mutter, dass er auch mich auf das Studium in der Musikmetropole an der Newa vorbereiten wird. 

Gras wächst ungesät,
Rosen wollen gezogen sein

 

Die vier Lernjahre an der Musikfachschule waren die anstrengendsten in meiner gesamten Ausbildungs- und Studienzeit. V. Schaposchnikov, talentierter Pianist und ein Schüler des legendären St. Petersburger Professors Vladimir Nielsen, war als Dozent kompromisslos und stellte an seine Schüler als werdende Interpreten die höchsten Anforderungen. Ich kann mich noch daran erinnern, gleich nach einer der ersten Unterrichtsstunden im Hinblick auf die bevorstehenden vier Jahre an der Musikfachschule und die weiteren fünf Jahre an einer Musikhochschule gedacht zu haben: „Noch neun Jahre solcher Qualen!“

 

Doch das Beherrschen des Musikerberufs bestand natürlich nicht nur aus Qualen. Immer mehr offenbarte sich die Musik als eine faszinierende und spannungsvolle Welt – eine Landschaft mit unermesslichen Weiten und schwindelerregenden Höhen; eine Sprache mit eigener Phonetik, Morphologie und Syntax, mit hochkomplexer Grammatik und Zeichensetzung; eine Wissenschaft mit exakten Gesetzmäßigkeiten und überraschenden scheinbaren Widersprüchen…

 

Immer neue Fragen wurden gestellt, immer neue Aufgaben gelöst:

Wie macht man den Unterschied zwischen dem 3/4-Takt und dem 6/8-Takt am feinsten hörbar?

Wie schafft man das, in einer dreistimmigen Fuge jeder Linie eine eigene Klangfarbe zu verleihen?

Mit welchem Finger trifft man am sichersten einen entlegenen Basston in fortissimo, damit dieser wie eine wohlklingende mächtige Glocke erschallt?

 

Auf der Suche nach Antworten wurden weitere musikalische Fächer zu Rate gezogen: Allgemeine Musiklehre und Tonsatz, Formanalyse und Musikgeschichte… Ich konnte nie verstehen, wie manche Mitstudenten Vorlegungen schwänzten, um ein paar zusätzliche Stunden fürs Üben am Instrument zu ergattern…

Kampf der Traditionen

 

…Für das inzwischen heiß ersehnte Studium an einer der renommiertesten Musikhochschulen des Landes – in St. Petersburg – war eine hohe Hürde der Aufnahmeprüfungen zu überwinden. Ich scheiterte beim ersten Versuch, verbrachte dann ein Jahr als Klavierlehrerin und Korrepetitorin an einer Kindermusikschule in der Pampa in meiner Heimatregion und versuchte ein Jahr später meine Kräfte an der Musikhochschule in Nižnij Novgorod – eigentlich ungern, denn diese gehörte der so genannten Moskauer Strömung in der Klavierkunst an, während ich mich selbstverständlich in der St. Petersburger Tradition zu Hause fühlte.

 

Zwei Studiensemester, die ich dann in der Stadt an der Wolga in der Klasse der Professorin Berta Marantz, einer Schülerin des berühmten Heinrich Neuhaus, verbrachte, waren voller heftiger Auseinandersetzungen: Ich stritt in meinem jugendlichen Maximalismus mit der hochbetagten Meisterin fast um jedes Detail, diese rief: „Ich kriege durch dich einen Herzinfarkt!“ und drohte, mich zu einem ihrer jungen Assistenten zu verfrachten. Einen wunderbaren Ausgleich zu diesen allwöchentlichen Kämpfen stellte der Orgelunterricht dar, den ich in Nižnij Novgorod zur gleichen Zeit aufgenommen hatte.

An der schönen,
blauen Newa…

 

Nach einem Jahr ergriff ich doch die Flucht nach St. Petersburg zu Vladimir Nielsen, schrieb mich zugleich in die Orgel- und Cembaloklassen ein und begann parallel dazu mit dem Studium der Musikwissenschaft. Dieses exzessive Hineinleben in die Musikwelt wurde unterstützt durch fast allabendliche Besuche von Konzerten und Theateraufführungen, wo Interpreten von Weltruf ihre Kunst auf höchstem Niveau präsentierten, aber auch durch das in-Berührung-Kommen mit dem einmaligen St. Petersburger Milieu sowie durch das Schlendern durch die wundervollen Straßen und Kais der St. Petersburger Altstadt…

 

Fast jede Unterrichtsstunde bei Professor Nielsen glich für seine Studenten einem kleinen Konzertauftritt: Der Unterrichtsraum war immer voll von Zuhörern, von denen manche sogar aus anderen Städten angereist waren. Der unerbittliche Professor forderte eine Erledigung mehrerer Aufgaben auf einmal: Eine neue Phrasierung und einen neuen Fingersatz, einen veränderten Anschlag und einen revidierten Pedalgebrauch… Seine Aussagen glichen prägnanten Aphorismen:

„Es ist sündhaft, Bach ohne Pedal zu spielen.“

„Ebenmäßigkeit ist eine geordnete Unebenmäßigkeit.“

„Je kürzer der Notenwert, desto länger ist er. Zwei Achtelnoten klingen länger als eine Viertelnote.“ 

…und an dem schönen, blauen Main

 

Ich stand kurz vor meinen Abschlussprüfungen, als eine Einladung kam, als Austauschstudentin nach Deutschland zu kommen. Das anfangs geplante halbe Jahr an der Musikhochschule in Würzburg in der Cembaloklasse von Professor Glen Wilson hat sich auf ein vollwertiges Studium ausgeweitet, das mit einer Konzertdiplom-Prüfung besiegelt wurde. Es war ein echtes Glück, in Professor Wilson einen Vertreter derselben klavieristischen Tradition zu finden, der auch mein St. Petersburger Meister angehörte. Während ich noch meine Abschlussprüfungen im Fach Klavier in St. Petersburg dazwischenschieben konnte, musste das Studium der Musikwissenschaft dort abgebrochen und an der Universität Würzburg neu aufgenommen werden. Die Spezialisierung nahm aber eine für den Westen weniger gewöhnliche Richtung: Bayerische Bibliotheken boten genug Stoff für die Beschäftigung mit der alten russischen Kirchenmusik, und so entstand meine Magisterarbeit über den Psalmengesang, wie dieser in der Russischen Orthodoxen Kirche im 17. Jh. praktiziert wurde.

 

Das darauf folgende Promotionsstudium widmete sich einer Symbiose zwischen Östlichem und Westlichem, zwischen Sakralem und Weltlichem. Im Mittelpunkt standen jene Werke des seinerzeit berühmten Italieners G. Sarti, die er am Hof der russischen Kaiserin Katharina der Großen schuf und dabei traditionelle liturgische Texte der Orthodoxen Kirche mit charakteristischer westeuropäischer Musik unterlegte. Diese wissenschaftliche Beschäftigung verdrängte das aktive Klavierspiel für einige Zeit in den Hintergrund. Die aktuelle Phase meines Lebens sorgt nun für einen diesbezüglichen Ausgleich… 

Von den Eindrücken des Augenblicks inspiriert…

 

Als Pianist kann man sich in vielen verschiedenen Bereichen betätigen. Die einen spielen erhabene Meisterwerke der großen Klassiker in berühmten Konzertsälen, die anderen sorgen für freudige Stimmung durch bewegende Töne der so genannten leichten Musik auf offenen Bühnen oder in gemütlichen Lokalen. Wieder andere erscheinen bei kleinen privaten Festivitäten, um eine ganz individuelle klingende Kulisse dafür zu schaffen. Bekannt und beliebt kann man in jedem dieser Bereiche werden. Ich selber liebe all diese drei Gebiete gleichermaßen. Unterm freien Himmel bei einem Straßenfest spielen kann genauso schön und bewegend sein wie bei einem Klavierabend in einem berühmten Konzertsaal. Ich liebe die Nähe des Publikums, einen emotionalen Austausch mit den Zuhörern, der entsteht, sobald ich ans Instrument herantrete. Ich freue mich jedes Mal auf die Möglichkeit, mich von den Eindrücken des Augenblicks zu inspirieren: So werden das Klavier, der Raum, mal auch das dazu erklingende poetische Wort und natürlich auch das Publikum zu Mitwirkenden beim Entstehen der in Klaviertöne gekleideten Erzählungen...